Nachfahren Jüdischer Bürger Zierenbergs in der Selbert-Schule

Lebendiger Geschichtsunterricht

Gegen das Vergessen: Der alte jüdische Friedhof war nur eine der Stationen, die Dorothea Sadlik (links) und Susan Olsburgh am Donnerstag besuchten.

Sie waren schon einmal hier. Viele Jahre ist das nun schon her, 60, um ganz genau zu sein. „Unsere Eltern hatten uns damals mit nach Zierenberg genommen“, erinnert sich Susan Olsburgh. „Warum, das konnten wir damals noch nicht begreifen.“ Es war wohl der gleiche Grund, warum die heute in Israel lebende 71-Jährige nun gemeinsam mit ihrer Schwester Dorothy Sadlik wieder auf dem alten Judenfriedhof an der Ehlenerstraße steht, gedankenversunken die verbliebenen Grabsteine betrachtet und Erinnerungen an ihre Vorfahren lebendig werden lässt. Es ist der Versuch, Vergangenes zu bewältigen. Auf Einladung der AG Erinnerungskultur sind sie nach Zierenberg gekommen, zurück zu den Wurzeln ihrer Familie, deren Leben in Nordhessen mit den Novemberpogromen vor 80 Jahren ein jähes Ende fand.
Olsburg und Sadlik sind Nachkommen der ältesten und größten jüdischen Familie aus der Warmestadt, die Enkeltöchter des angesehenen jüdischen Schneiders Jakob Moritz Schartenberg, der mit seiner Familie einst in der damalige Poststraße 37 (heute 34) gelebt hatte. Auch hier führt es die Schwestern hin zurück. Wo heute Stolpersteine an ihre Vorfahren erinnern, werden sie nachdenklich. „Hier standen wir damals auch“, sagt Dorothy, die mit gemischten Gefühlen zurückblickt: „Ich erinnere mich, dass meine Mutter besonders aufgebracht war. In der Nähe des Hauses unserer Großeltern stand ein Mann. Er wusste, dass wir Juden waren und er sagte, er würde niemals einen Juden ins Wasser werfen, und niemals einen herausziehen.“ Ein tiefes, unschönes Gefühl habe das hinterlassen, umso mehr freue sie sich, heute auf besonders herzliche Art in der früheren Heimat ihrer Familie empfangen zu werden. Es rühre sie zutiefst, wie das Andenken an die Schartenbergs aufrecht gehalten werde, auch durch Jungen und Mädchen der Elisabeth-Selbert-Schule, die deren Biografie im Unterricht recherchiert hatten.
Die Begegnung mit den Schülern sei ihr eine Herzensangelegenheit gewesen, denn „bessere Holocaustaufklärung kann es nicht geben“, sagt die 75-Jährige, die auch in ihrer heutigen Heimat England regelmäßig mit Schülern und Studenten arbeitet. „Kein Buch kann das ersetzen, was der persönliche Austausch geben kann, so wird Geschichte lebendig und für die jungen Menschen greifbar, in der heutigen Zeit ist das leider wieder wichtiger denn je.“
Worte, die auch Bürgermeister Stefan Denn bewegen. „Intoleranz und Gewalt, Hetze und Rücksichtslosigkeit sind plötzlich wieder mitten unter uns“, mahnt er am Abend in der Mittelstraße während einer Gedenkstunde zur Reichspogromnacht, wo bis zum 8. November 1938 die jüdische Synagoge gestanden hat. „Wir sind zusammengekommen, um deutlich zu machen, dass Intoleranz, Hass und Gewalt im 21. Jahrhundert keinen Platz in unserer Gesellschaft haben dürfen und fordern: keine Diffamierung oder Ausgrenzung von Menschen wegen ihres Glaubens, ihrer Lebensart oder Kultur.“ Worte, die mit zahlreichen anderen versöhnlichen Begegnungen und Gesprächen eines berührenden Tages künftig vielleicht auch Susan Olsburgh und Dorothy Sadlik mit besseren Gefühlen an Zierenberg, die Heimat ihrer Familie, zurückdenken lassen.